SIMON LANG

FAKED AND ORGANIZED DENIAL OF REALITY

RAVE

Kybernetische Raserei, Temporary Autonomous Zone, Simulation und RAYARRAY

ABSTRACT

Diese Arbeit ist eine medienwissenschaftliche Untersuchung über eine bestehende Form des Rave, die zusammen mit der Lichtinstallation RAYARRAY und der Abschlusspräsentation RAYVE meine Bachelor-Arbeit bildet. Ich werde dazu eine kurze Einführung in zwei entscheidende Themen geben: Welche Form der Veranstaltung für mich als Rave einzuordnen ist sowie Utopien, da sie in allen Betrachtungen omnipräsent sind. Anschließend projiziere ich drei Modelle aus der Theorie und eines aus meiner eigenen künstlerischen Praxis auf das Thema. Innerhalb der Projektionen werde ich einzelne Thesen aufstellen:

Der Rave ist ein Rückkopplungssystem, in dem alle Elemente in Kommunikation miteinander stehen und so einen geschlossenen Organismus bilden, der von seiner Umgebung abzugrenzen ist.

Der Rave ist eine Temporäre Autonome Zone und folgt damit einer anarchistischen Praxis, in der alternative Formen der Gemeinschaft erprobt werden, wenn nicht sogar bereits konkret gelebt werden können.

Der Rave ist eine Simulation innerhalb des Leviathans, die aber eine wahrgenommene Realität als Illusion offenbart, da sie ganz real einen Raum schafft, der nach anderen Mustern funktioniert.

RAYARRAY ist eine Analogie auf den Rave, da die Installation den drei Modellen entspricht und dabei selbst in einer rekursiven Logik die jeweilige Funktion der Modelle auf dem Rave einnimmt

Diese Arbeit ist Teil meiner künstlerischen Praxis.

EINLEITUNG

In einem Zeitalter der Medientechnologien, in dem unser Alltag von technologischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten geprägt ist und die Computerisierung der Gesellschaft ein totales Ausmaß angenommen hat erscheinen davon entkoppelte Gesellschaftsentwürfe zunehmen ungreifbar. Die digitale Vernetzung der Welt hat ein Abhängigkeitssystem geschaffen, dem man sich entweder ergibt oder vollständig entsagt durch Abkoppelung aller Systeme, mit denen ein Individuum verflochten ist. Freiräume, autonome Zonen und Systeme außerhalb des Absoluten vernetzten Systems werden verdrängt und erscheinen kaum noch vorhanden, sind jedoch für eine kulturelle Produktion und Entfaltung einer individualisierten Gesellschaft unabdingbar. Eine sich ständig expandierende Vernetzung führt andernfalls langfristig zu einer kulturellen Gleichschaltung. In diesem Zustand der Ohnmacht findet der Rave statt. Ein peitschender Organismus aus Licht, Schall, Körpern, Schweiß und Drogen der in Dunkelheit mutiert. Eine mediale Reizüberflutung als Flucht aus einer reizüberfluteten Mediengesellschaft.

Eine Reihe von Überlegungen ist nun für diesen Text verantwortlich: Ein Rave stellt für mich ein leeres Medium dar, entsprechend möchte ich im Folgenden eine medienwissenschaftliche Perspektive einnehmen und aus dieser den Rave qualitativ untersuchen. In dieser Arbeit werde ich vier Projektionen vornehmen: drei aus der Theorie und eines aus meiner eigenen künstlerischen Praxis. Durch die unterschiedlichen Beleuchtungen des Themas soll so ein Panoptikum entstehen, durch das sich neue Einsichten und Möglichkeiten eines Raves offenbaren. Ich folge damit einem dialektischen Ansatz und sehe in sich ergebenden Widersprüchen das Potential einer Aufhebung zu einem tiefergreifenden Verständnis. Im Rahmen dieser Bachelor-Arbeit werde ich demnach zu keiner finalen These gelangen, viel eher soll der Rave selbst in seiner Ausformulierung die These bilden. Die einzelnen Projektionen lauten:

I Kybernetische Raserei

II Temporary Autonomous Zone

III Simulation

IV RAYARRAY

Die Theorie wurde schließlich zur Praxis und mündete daher in einem Rave, bei dessen Planung ich versucht habe, die Erkenntnisse, die hier gewonnen werden, umzusetzen. Auf dem Rave hat zu Beginn eine Lesung dieser Arbeit stattgefunden und anschließend habe ich während der Nacht Interviews mit Gästen geführt. Im Fazit werde ich hierauf noch einmal zurückkommen.

RAVE

Elemente

Bevor ich beginnen kann, soll eine kurze Einführung in das Thema Raves allgemein erfolgen, da sich sonst einige auf dem Weg verlieren würden. Ich versuche mich hierbei so kurz wie möglich zu fassen und werde die einzelnen Aspekte nicht weiter ausführen, da sie dem Leser bekannt sein sollten. Mir geht es vor allem um eine ausreichend scharfe Abgrenzung zu anderen Formen der Party und des Feierns. Die Bezeichnung Rave stammt von dem englischen Verb „to rave“, das sich am ehesten zu schwärmen oder rasen übersetzen lässt. Die Bezeichnung Rave ist dabei Ende der 80er Jahre zum ersten Mal aufgekommen und bezeichnete bis Mitte der 90er Jahre vornehmlich größere Tanzveranstaltungen der Elektronischen Musik und hatte seitdem einen nicht zu vernachlässigen Bedeutungswandel, da aktuell auch kleinere selbstorganisierte Veranstaltungen als Raves bezeichnet werden. Dieser Form der selbstorganisierten Raves möchte ich mich widmen, die Besucherzahl ist dabei nebensächlich. In einigen Aspekten fallen auch subkulturelle Techno-Clubs innerhalb meiner Auffassung von Raves, diese möchte ich daher nicht explizit ausschließen. Solange ein Club in nicht gänzlich festen Strukturen agiert und die folgenden Aspekte aufgreift, ist er in diesem Kontext mitgemeint. Grundsätzlich lässt sich eine allgemeingültige Definition nur schwer finden, da auch die Rave-Kultur unterschiedlichen regionale Ausprägungen unterliegt, aus meiner eigenen Beobachtung, als Besucher und Veranstalter, würde ich jedoch folgende Elemente als die zentralen Bestandteile deklarieren:

Musik: Offensichtlicherweise spielt Musik die entscheidendste Rolle. Es wird vornehmlich Techno in allen seinen Subgenres gespielt – Von House über Breakbeat bis Trance. Der DJ spielt hierbei in meiner Wahrnehmung eine weniger zentrale Rolle als in anderen Genres – Die Musik selbst steht im Vordergrund. So befindet sich der DJ selten auf einer Bühne, sondern ist je nach Veranstaltung entweder Teil des Publikums oder teils kaum auffindbar. Grund hierfür ist die, zumindest in Indoor-Locations weit verbreitete, Vier-Punkt-Beschallung, sodass die Musik aus keiner klar erkennbaren Richtung mehr zu kommen scheint, sondern aus allen Richtungen gleichzeitig.

Licht: Das Licht als zweitwichtigste Komponente fasse ich als minimalistisch, abstrakt auf. Der Einsatz an Effekten wie Nebel und Stroboskop fällt vergleichsweise hoch aus, die Grundbeleuchtung ist dabei meist relativ dunkel gehalten. Es handelt sich somit rein strukturell um eine recht direkte Übersetzung der gespielten Musik zu Licht. Der physische Aufbau des Lichts, im Vergleich zur Vier-Punkt-Beschallung, verfolgt ebenfalls den Anspruch, eine größtmögliche Immersion zu bieten. Als auffällig würde ich den Aufbau von Lichtinstallationen abseits der Tanzfläche bezeichnen, welche die Immersion der Tanzfläche auf das Umliegende erweitern. Dieses Prinzip ist auch in anderen Veranstaltungsformen wiederzufinden, jedoch selten so explizit und umfangreich ausgeführt.

Tanz: Aus den ersten beiden Parametern resultiert ein dritter – der Tanz. Die Form des Tanzes ist hierbei gänzlich frei und folgt keinerlei geplanter Muster. In der folgenden Analyse wird der Tanz jedoch keine entscheidende Rolle spielen, entsprechend werde ich an dieser Stelle neben dem Umstand der Freiheit nicht weiter darauf eingehen.

Mode: Wie bei den meisten etablierten Formen des Feierns haben sich einige Dresscodes entwickelt. Neben diesen auffälligen Codes gilt jedoch das Paradigma, dass sich jeder mit seiner Kleidung so ausdrücken kann wie die Person es möchte. Das Publikum versucht sich viel eher von gesellschaftlichen Normen in der Mode zu befreien. Diesen Umstand würde ich nicht nur auf Kleidung projizieren, sondern auch auf Ethnie, Sexualität, Gender, etc. übertragen, die Teil des Begriffs Mode sind.

DIY: Einer der bemerkenswertesten Bestandteile der Rave Kultur ist die inkorporierte DIY-Kultur. Von Lautsprechern über Lichtinstallationen bis zu ganzen Bühnen wird vieles in kollektiver und unkommerzieller Arbeit selbst hergestellt. Industrie genormte Fertigbauteile wie sie fast überall im Veranstaltungsbereich zum Einsatz kommen sind ungerne gesehen. An diesen Umstand anknüpfen möchte ich die Tatsache, dass hieraus auch eine werbefreie Zone entspringt. Markenidentitäten wie sie auf Partys und in Clubs anderer Genre häufig vorkommen sind kaum wiederzufinden. Mit der DIY-Kultur kommt somit auch eine allgemein antikapitalistische politische Einstellung einher.

Drogen / Psychedelika: Der Konsum von psychoaktiven Substanzen wie MDMA oder LSD ist allgemein toleriert, weit verbreitet und wird teilweise aktiv zelebriert. Aufgrund der Kriminalisierung dieser Substanzen und der damit einhergehenden drohenden Staatsgewalt handelt es sich jedoch um ein Konflikt geladenes Thema. Der richtige Umgang damit wird seit jeher intensiv debattiert. Wie ich später zeigen werde, findet der Konsum von Psychedelika in einer gleichen Logik wie der Rave selbst statt, daher halte ich es für wichtig diesen Umstand hier gesondert zu erwähnen.

Wie eingangs erwähnt, ist eine enge Definition nicht möglich, aber es sollte nun ausreichend eingegrenzt worden sein, welche Form der Party ich als Rave begreife. Ein Rave besteht aus Techno, Lichtinstallationen, freiem Tanz und freier Mode, vielen selbstgebauten Installationen, und wird durch den Konsum von Psychedelika expandiert. Partys, die einen kommerziellen Anspruch verfolgen, die in festen Settings stattfinden, die Ästhetisch eine gewohnte Umgebung nicht verlassen, sind explizit nicht Teil der hier analysierten Rave-Kultur.

Der Rave als leeres Medium

Folgend möchte ich den Rave als ein leeres Medium auffassen. Um diese Betrachtung zu verstehen, müssen wir uns zunächst einen Begriff von „Medien“ schaffen. In unserer Alltagssprache ist ein Medium meist mit einem spezifischen Kommunikationsmittel gleichgesetzt jedoch beschreibt der Begriff eigentlich etwas Allgemeineres. Zwar sind „klassische“ Medien in ihrer Chronologie wie Bücher, Radio, Telefon, Fernsehen, CDs, SMS etc. korrekterweise jeweils ein Medium, darüber hinaus lässt sich jedoch unter dem Ausdruck alles vereinen, dass die Funktion besitzt Informationen zwischen zwei Entitäten zu transportieren. Ein Medium vermittelt (engl. to mediate). Ein Medium ist ein Informations-Vehikel. Nach dieser Abstraktion lässt sich also alles, dass in irgendeiner Weise Informationen transportieren kann als ein Medium begreifen. Ich bin der Auffassung, dass wir an dieser Stelle nun aber eine Präzession benötigen. Ein Datenträger ist genauso gut ein Informationsvehikel, worin liegt also der Unterschied zu einem Medium? Ein Datenträger vermittelt zwar im Sinne des reinen Daten Tragens und der damit einhergehenden Übermittlung, jedoch ist es zugleich auch ein Speicher. Ein Medium stellt für mich dagegen vor allem ein System des Transportes dar. Ein Datenträger kann jedoch in diesem Verständnis Teil eines Mediums sein, immer dann, wenn es ein übergeordnetes System gibt, in dem der Datenträger agiert oder anders formuliert vermittelt. Das System der Übertragung, von einem Komplex zu einem anderen mittels eines Datenträgers ist dementsprechend ein Medium. Betrachten wir so z.B. ein klassisches Medium wie eine CD, so ist sie zunächst ein physischer Datenträger. Sobald ich jedoch darüber nachdenke, wie sie hergestellt wird, wie die Daten auf die CD gelangen, wie das Distributionsnetzwerk aussieht und welche Möglichkeiten und Beschränkungen daraus resultieren, wird die CD zu einem Medium. Ich denke, es ist insofern der Netzwerk-Charakter der Medien, der unter dem abstrakten Verständnis als reiner Vermittler leidet, da ich die Untersuchung des Netzwerkes als ausschlaggebendes Element betrachte. Ein Medium stellt einen Vermittler dar, der mit einem System des Vermittelns, einem Netzwerk aufwarten kann und der entsprechend den Effekten dieses Netzwerks unterliegt. Mit diesem Verständnis lässt sich nun weiterhin nahezu jeder Gegenstand als ein Medium verstehen, jedoch liegt der Fokus nicht nur auf der Form der Relation zwischen den Entitäten, also dem Vehikel, sondern in gleichem Zuge auf dem Gitter, welches die Entitäten und Relationen konstruiert. Ich möchte den Rave somit nicht nur als ein Gefäß der Information betrachten, sondern darüber hinaus das System begreifen, das hieraus hervorgeht und in dem er agiert.

Den letzte Entscheidende Aspekt eines Raves hatte ich daher noch ausgelassen und möchte ihn hier nun anführen: Die Unvollständigkeit. Ich fasse einen Rave als eine Art Blueprint auf: Die Veranstalter setzen durch den Aufbau eine Startbedingung, einen „Seed“ und welches System sich hieraus konfiguriert, ist den Besuchern überlassen. Wie bereits angerissen ist auf einem Rave kaum etwas klar definiert: Die Musik ist abstrakt, das Licht ist abstrakt, der Tanz frei, die eigene Identität ist frei; durch die DIY-Kultur lässt sich kaum etwas bekanntes erblicken, entsprechend frei muss ein Publikum den Rave interpretieren, auffassen und dann performen. Da auf einem Rave so ziemlich alles toleriert wird, stellt sich die Frage welche Werte und Normen verteidigt werden. Das Raves nicht selten nachts stattfinden ist hierbei kein Zufall: Nur schemenhafte Bedeutungen sind zu erblicken, wenn sich denn überhaupt etwas erblicken lässt, da die einzig natürliche Beleuchtung durch eine kosmische Reflektion des Mondes erfolgt. In der rohen Form der Nacht existiert kein Licht, sodass die Welt an Schein verlieren muss und in Dunkelheit getränkt wird. In dieser Abwesenheit der Information lässt sich also einiges neu konstruieren. Entsprechend leer ist der Rave in seiner Startbedingung. Mittels dieses Kontextes lässt sich nun vermutlich einfacher begreifen, inwieweit ein Rave ein leeres Medium darstellt. Wenn ein Medium ein Vehikel der Information ist und wir den Rave als ein Medium betrachten, so stellt sich die Frage welche Information der Rave transportiert. Da sich der Rave in seiner Startbedingung den Vorgaben entzieht, bleibt nur ein leeres Vehikel übrig, das mit Informationen und Definitionen aufgeladen und im wörtlichen Sinne beladen werden kann. Umso weniger Informationen uns also geboten werden, desto mehr Informationen können sich noch neu konstruieren. Wie in einem thermodynamischen System fließt Information aus einem Bereich mit hohem Energiegehalt zu Bereichen niedrigeren Energiegehalts. Der Rave bietet sich also nicht nur an als Freiraum, der das Potential hat, erschlossen zu werden, sondern verlangt in seiner Abstraktion förmlich dazu, mit Informationen aufgeladen zu werden. Eine immense Gravitation dehnt sich aus diesem ominösen Freiraum, etwas vermeintlich Irrationales ist am Greifen.

UTOPIEN

Nicht Ort / Besserer Ort

Das Prinzip, dem wir uns nun annähern müssen, ist jenes der Utopie. Die Utopie als philosophische Kategorie ist eine vergleichsweise junge Erscheinung, da sie innerhalb einer Jahrtausende alten Historie an philosophischen Überlegungen erst mit Ernst Blochs „Geist der Utopie“ (1923) manifestiert wurde und zu einer eigenen philosophischen Kategorie heranwuchs. Bloch beschreibt in „Geist der Utopie“ den Menschen als ein zu jedem Zeitpunkt zur Utopie fähiges Wesen, das mithilfe dieses Denk-Konstruktes in der Lage ist, eine neue Welt zu schaffen. „Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen.“(Bloch 1923, 11). Als erstes begründet wurde der Begriff „Utopie“ jedoch bereits 1516 von dem englischen Schriftsteller Thomas More.

Einen modernen systematisierten Überblick über Utopien bietet der Politikwissenschaftler Lyman Tower Sargent, dessen Forschungsschwerpunkt utopische Studien sind. Sargent stellt in „Utopianism – A Very Short Introduction” zunächst fest, dass der Begriff Utopie selbst zum einen von dem Begriff Eutopia stammt, dem schließlich die Vorsilbe „U-„ vorangestellt wurde. Eutopia bedeutet dabei so viel wie der bessere Ort, während die Vorsilbe „U-„ als „Nicht-„ verstanden werden kann und somit so viel wie Nicht-Ort bedeutet. Utopie meint damit in seinem gesamten Wortsinn „der bessere Ort“ und „der nicht existierende Ort“. Meistens folgt daraus ein noch bevorstehender besserer Ort. Der Soziologe Ruth Levitas hat Utopien als „the desire for a better way of being” beschrieben, während Sargent selbst Utopien knapp als „social dreaming“ auffasst. Demnach sind einer der auftretenden konkreten Utopien die der „intentional communities“ in denen versucht wird eine utopische Praxis zu etablieren um somit den eigenen Idealen bzw. der eigenen Idealvorstellung, also der selbst gezeichneten Utopie so nahe wie möglich zu kommen. Man könnte gewissermaßen von einem utopischen Experiment sprechen. Zentraler Bestandteil der intentional communities sind demnach die geteilten Werte und der gemeinsam verfolgte Zweck. intentional communities reichen historisch betrachtet von Klostergemeinschaften bis Hippie-Kommunen und darüber hinaus.

Blicken wir mit diesem Grundverständnis von Utopien kurz in die Vergangenheit, so eröffnet sich einem eine lange Tradition an Produktion von Utopien, die in den meisten Kulturen, Religionen und politischen Systemen auftaucht. Spannend ist hierbei zu betrachten, an welchen Stellen der Geschichte sich jedoch eine signifikante Häufung von Utopien herauskristallisiert. Lyman Tower Sargent stellt fest, dass insbesondere in neu zu erschließenden Räumen Utopie-Vorstellungen florieren. So haben sich beispielsweise durch die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus westliche Narrative zu Utopien überschlagen, die schließlich in konkreten Umsetzungsversuchen in den Kolonien aufgegangen sind. Dass die Kolonialzeit aus heutiger Sicht relativ wenig Utopisches an sich hat, dürfte klar sein, allerdings verweist uns das auf eine der weiteren Kerneigenschaften von Utopien: Ihr zweites Gesicht, die Dystopie. Wer utopische Narrative reflektiert, muss die Dystopie stets mitdenken. Je nach Betrachtungswinkel zeigt sich einem die eine oder die andere Seite derselben Sache, während jedoch immer Beide anwesend sind. Die Utopie des einen bedeutet vermutlich die Dystopie des anderen. Die Dystopie des einen bedeutet vermutlich die Utopie des anderen.

Der Rave verlangt nach Information

In der Logik der Projektion erscheint der Rave als ein Raster unerfasster Utopien. Ein Feld der Möglichkeiten das sich aufladen möchte, in das die Vorstellungskraft expandieren soll. Der Rave ist ein unerschlossener Freiraum, in den die Utopie nun hineingelegt wird, sowie sie schon zuvor in diverse andere Freiräume hineingelegt wurde. Bei dem Gedanken, dass sich die Welt für einige Stunden an Definitionen entsagt, wird die eigene Kreativität gefordert. Der Rave ist ein Medium, ein leeres Medium, das verlangt mit Information aufgeladen zu werden. Die Utopie wird von dieser Gravitation angezogen und projiziert ihre Narrative auf den Rave. Der Rave wird damit konkret zu einer intentional community. Diesen Umstand halte ich für omnipräsent in allen folgenden Überlegungen, da sich je nach Betrachtung eines Raves durchaus konträre Erkenntnisse erzielen lassen. Der Rave ist unparteiisch und unpolitisch in roher Form und übt zumindest theoretisch eine Anziehung in alle Richtungen gleichermaßen aus, umso entscheidender die Frage nach Werten und Idealen auf einem Rave, da diese nur zu einem begrenzten Maße vorgegeben werden können, sich erst in der Umsetzung manifestieren und anschließend verteidigt werden müssen.

PROJEKTIONEN

Kybernetische Raserei

Es ist an der Zeit zu beschleunigen. Die Bezeichnung Rave stammt von dem englischen Verb „to rave“, das sich am ehesten zu schwärmen oder rasen übersetzen lässt. In diesem Sinne ist ein Rave eine Raserei – eine zutiefst kybernetische in meinem Verständnis. Der Rave ist in meiner Betrachtung immer eine in medialer Form stattfindende Raserei, da er den Besucher auf allen medialen Ebenen überflutet. Eine Verschmelzung aus Licht, Schall, Körpern, Schweiß und Drogen zu einem peitschenden Organismus, der in Dunkelheit mutiert. Der Rave ist sich dieses Umstandes nur allzu bewusst und sucht eben jene Reizüberflutung. Innerhalb dieser Raserei eröffnet sich eine individuelle Freiheit, die zugleich alle Entitäten des Systems Rave zu einem geschlossenen Organismus vereint.

Zur Kybernetik: Der Begriff der Kybernetik wurde von Norbert Wiener begründet und beschreibt die Wissenschaft und Technik der Steuerung von Regelkreisläufen. Damit ist eine Wissenschaft gemeint, die Rückkopplungsmechanismen In Natur und Technik untersucht und es gewissermaßen wagt, einen Zusammenhang zwischen diesen nur vermeintlichen Polen herzustellen. Einmal angewandt wird der Grat zwischen den Oppositionen Natur und Technik schmaler. Wiener hat hierzu im Jahr 1952 das Werk „Mensch und Menschmaschine“ verfasst, das eine verständliche Einführung in eben jene Denkweise bieten soll. In der Einleitung zu „Was ist Kybernetik?“ schreibt er: „Seit Jahren beschäftige ich mich mit Problemen der Nachrichtentechnik. Dies hat mich dazu geführt, verschiedene Arten von Maschinen für den Nachrichtenverkehr zu entwerfen und näher zu untersuchen, von denen einige die unheimliche Fähigkeit zu erkennen lassen, menschliches Verhalten nachzuahmen und dadurch möglicherweise das Wesen des Menschlichen zu erhellen. Sie zeigen sogar das Vorhandensein gewaltiger Möglichkeiten auf, den Menschen in solchen Fällen zu ersetzen, in denen er verhältnismäßig langsam und unvollkommen reagiert. So stehen wir vor der Notwendigkeit, die Kräfte dieser Mechanismen, soweit sie den Menschen angehen, und die Folgerungen aus dieser neuen und grundlegenden technischen Revolution zu erörtern.“ (Wiener 1952, 25). Eben jene Erörterung, also die Wechselmechanismen und Regelkreisläufe zwischen Mensch und Maschine können wir als Kybernetik auffassen.

Unter diesem Licht erscheint der Rave als eine einzige kybernetische Raserei, da ich den Rave als ein geschlossenes Rückkopplungssystem aus technischer und organischer Performance betrachte. Jedes der Elemente eines Rave, Musik, Licht, Tanzende, etc. ist in Kommunikation mit den anderen und beeinflusst diese, sodass die Entitäten zu einem System verschmelzen. Hierzu möchte ich einige konkrete Beispiele heranziehen: Die menschliche Hirnaktivität lässt sich mittels EEG in Form von Wellen in unterschiedlichen Frequenzbändern darstellen. Das Hören von Musik kann diese wiederum beeinflussen, sodass sie sich in ihrer Frequenz verschieben. Beim gemeinsamen Hören von Musik, so wie es auf einem Rave intensiv passiert, kann so eine Synchronisation der Frequenzen unterschiedlicher Hörer beobachtet werden. Dieser Zustand der Synchronisation trifft des Weiteren nicht nur auf Gehirnwellen zu, sondern lässt sich auch auf die Herzfrequenz übertragen. Diesem reaktionären Muster folgt auch die Lichttechnik, die für gewöhnlich gesteuert durch einen Light-Operator auf die musikalischen Wendungen eines DJs reagiert. Das Licht und das Frequenzspektrum der Musik haben wiederum direkten Einfluss auf die Bewegungsintensität der Besucher. Je lauter und tiefer eine Frequenz auf einer Party wiedergegeben wird, desto intensiver die Bewegungen der Besucher. Insbesondere Sub-Bass-Frequenzen, wie sie im Techno vorzufinden und nur über entsprechend dimensionierte Anlagen wiederzugeben sind, haben dabei die größte Auswirkung. Es lässt sich also eine ganze Reihe an Reaktionen aufstellen, die sich nach wenigen Instanzen zu Kreisläufen schließen und somit eine Rückkopplung erzeugen. Da der Rave getrennt von seiner Umwelt stattfindet, vereint dieser Kreislauf an Reaktionen, das Feedback, die Rückkopplung den Rave zu einem geschlossenen System

Die zentrale Erkenntnis, die ich hieraus gewinnen will, lautet: Ich kann die Entitäten eines Raves nicht als einzelne Entitäten auffassen, sondern muss diese in einem Netzwerk betrachten. So wie ein Medium seine entscheidenden Eigenschaften durch die Netzwerkcharakteristiken erlangt, ist dieser Umstand auch bei dem Medium Rave der Fall. Ein Rave suggeriert eine Freiheit, nach der sich jeder so ausleben kann, wie die Person es möchte – Man könnte von einem akzelerierten Egoismus sprechen. Zugleich sorgt die multimediale Vernetzung zu einer unbestreitbaren Verbindung der Individuen. Ich möchte sogar so weit gehen und behaupten, dass der Rave zu einem Organismus wird, da er synonym zu einem System, in sich geschlossen und abgetrennt zur Umwelt, existiert. Das leere Medium wird damit nicht von einzelnen Entitäten, sondern von einem Organismus gefüllt und ausgeformt.

Temporary Autonomous Zone

Ich muss anerkennen, dass der Freiraum in seiner Definition einen Widerspruch bildet zu einer vollständig erschlossenen Welt. Dennoch können Freiräume existieren, und dass in Aspekten zu einem erstaunlichen Maße. Hakim Bey, formuliert die Temporäre Autonome Zone kurz TAZ als Entkommen aus einer vollständig regulierten Welt. In dem 1991 erschienenen Werk “The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism” erkennt Bey, dass der letzte Fleck „unbeanspruchtes Land“ im Jahr 1899 okkupiert wurde und die Welt seitdem gänzlich unter staatlicher Kontrolle steht: „The last bit of Earth unclaimed by any nation-state was eaten up in 1899. Ours is the first century without terra incognita, without a frontier. […] Not one square inch of Earth goes unpoliced or untaxed… in theory.” (Bey 1991, 106). Die Temporäre Autonome Zone, die schon der Bezeichnung nach temporär und räumlich begrenzt existiert, ist demnach eine bestehende Möglichkeit aus diesen Zwängen zu entkommen: „The TAZ is like an uprising which does not engage directly with the State, a guerrilla operation which liberates an area and then dissolves itself to re-form elsewhere/elsewhen, before the state can crush it.” (Bey 1991, 104). Der Grund, weshalb diese Zonen existieren können, ist in der Sache selbst enthalten. Durch ihre temporäre Existenz bleiben sie vor dem Staat unsichtbar und verschwinden, sobald sie Gefahr laufen, kontrolliert zu werden: „[…] but its greatest strength lies in its invisibility—the State cannot recognize it because History has no definition of it. As soon as the TAZ is named, it must vanish, it will vanish, leaving behind an empty husk, only to spring up again somewhere else, once again invisible because undefinable in the terms of the Spectacle.” (Bey 1991, 105).

Und so entfaltet sich der Rave als Temporäre Autonome Zone. Zeitlich begrenzt und geographisch ungefestigt entzieht er sich staatlichen Kontrollen. Hakim Bey sieht konkret in einer Party immer zumindest das Potential einer TAZ, und formuliert das Chaotische einer Party als ausschlaggebendes Element: „Whether open to a few friends, like a dinner party, or to thousands of celebrants, like a Be-In, the party is always “open” because it is not “ordered”; it may be planned, but unless it “happens” it’s a failure.” (Bey 1991, 110). Ich sehe somit den Rave als eine real existierende Temporäre Autonome Zone, da er, sofern eine ausreichende Rahmenbedingung gesetzt wurde, gänzlich unkontrolliert stattfinden kann. Wie bereits deklariert, bildet ein Rave zunächst einen Blueprint, eine Startbedingung, die erst von den Besuchern aufgegriffen ein komplexeres System generiert. Ich möchte hierzu einen der vermutlich größten existierenden Rave als Beispiel heranziehen: Die Fusion.

Das Fusion-Festival, das seit 1997 jährlich auf einem ehemaligen Militärflugplatz in Lärz stattfindet, ist gewissermaßen eine absolute Version des Raves, da die Fusion zumindest in Deutschland und Teilen Europas eine immense Anzahl entscheidender Akteure dieser Kulturlandschaft zusammenbringt, um ein gemeinsames Festival zu feiern. Etwa 8000 ehrenamtliche Künstler und Künstlerinnen und Kulturschaffende aus kleineren Festivals, Raves und Clubs dieses Genres vereinen sich, um eine temporäre autonome Zone zu erbauen. Wie entkoppelt diese Form der Gesellschaft ist lässt sich beispielsweise an der vollständigen Abwesenheit von Markenidentitäten erkennen: Die Fusion ist zunächst eine gänzlich werbefreie Zone die nicht nur frei von irgendwelchen Bannern und Sponsorings stattfinden kann, sondern so weit geht, dass u.a. Etikett-lose Bierflaschen verkauft werden. Dieses Ideal mag zunächst nebensächlich wirken, wer jedoch bereits einen Tag in einem vergleichbaren Umfeld verbracht hat, erfährt sofort eine befreiende Wirkung. Die westlich kapitalistische Welt im Gegensatz besteht weitestgehend aus Corporate Identities, die über Jahrzehnte dahingehend perfektioniert wurden unsere Aufmerksamkeit an sich zu reißen. Aus diesem Ideal geht jedoch noch eine viel größere Faktor hervor: Alle, über 40 Bühnen / Floors der Fusion werden von unabhängig arbeiteten Crews in ehrenamtlicher Arbeit selbst gebaut. Alte Hochspannungsmasten werden neu aufgestellt zu Boxentürmen umfunktioniert, Ein altes U-Boot wird zu einer Bar, aus Holz und Stahl werden in wochenlanger Arbeit Filmkulisse Ähnliche Floors gebaut, die in ihrem Gestaltungskonzept von Raumstation über Maya-Stadt bis Metropolis reichen. Während sich auf kommerziellen Festival vor allem Alutruss-Bauteile wiederfinden lassen, aus denen kosteneffizient Bühnen hergestellt werden, wird man auf der Fusion kaum etwas dem Auge Bekanntes wiederfinden. Aufgrund der zeitlichen Begrenzung ist die Fusion temporär und durch ihren Aufbau und ihre Organisationsstruktur autonom. Neben der Materialität hat es die Fusion zudem bis heute geschafft, die Staatsgewalt von dem Gelände auszuschließen, und verteidigte diesen Umstand zuletzt 2019 heftig, worauf ein breites Medienecho folgte. An diesem Aspekt folgt nun aber eine Unterscheidung zu Hakim Beys Ausformulierung der TAZ: Die Fusion ist durchaus sichtbar, und das seit Jahren. Umso faszinierender erscheint mir der Umstand, dass sich diese Zone dennoch erhalten konnte. Wie bei der TAZ, die nach Bey einfach „passieren“ muss, bildet auch die Fusion am Ende nur eine Startbedingung. Zwischen einzelnen Akteuren herrscht der Konsens, dass das Festival erst durch die Besucher und wie diese mit dem Angebot umgehen, vervollständigt wird. So finden während den 5 Tagen an unterschiedlichen Orten Guerilla-Konzerte und Performances statt, Ungeplante Walking-Acts laufen über das Gelände, oder ganze Bereiche wie der Fire-Space, auf dem ausschließlich Besucher als Artisten auftreten, existieren.

Hakim Bey geht nun noch einen Schritt weiter und erkennt in der TAZ nicht nur einen absoluten Freiraum, sondern auch das Potential, alternative oder gänzlich neue Gesellschaftsentwürfe zu erproben. Erproben bedeutet in diesem Kontext, dass neue Ideale bereits gelebt werden können, vergleichbar einer intentional community nach Lyman Tower Sargent. „And because the TAZ is a microcosm of that „anarchistic dream“ of a free culture, I can think of no better tactic by which to work towards that goal while at the same time experiencing some of its benefits here and now”. Eben jenes Prinzip wird auch von der Fusion aufgegriffen, die sich vor diesem Kontext selbst als „Ferienkommunismus“ versteht. Letztendlich dürfte das Konzept der Temporären Autonomen Zone an dieser Stelle selbsterklärend sein, dementsprechend möchte ich mit einem letzten Zitat diesen Abschnitt beenden: „If the phrase became current it would be understood without difficulty… (it would be) understood in action.“ (Bey 1991, 102). Der Rave ist nicht nur ein Organismus oder eine intentional community, sondern auch eine temporäre autonome Zone, aus der ein revolutionäres Potential entspringt.

Simulation

Der Rave ist eine Simulation. Eine Simulation innerhalb eines referenzlosen hyperrealen Raums, und somit das realste, das geschaffen werden kann. In der Sprache eines anderen, eine Heterotopie, nach der die übrige Realität als Illusion entlarvt wird. Bevor ich in die abstrakten Gefilde der Simulationen vorstoße, möchte ich zunächst eine ganz sachliche Betrachtungsweise heranziehen: Der Rave ist bereits in seiner rein physischen Konstruktion eine Simulation, eine virtuelle Welt, im Sinne der vollständig konstruierten Welt. Ich halte den Begriff der Virtual Reality allgemein, also nicht nur in diesem Kontext, für irreführend, da er einen Widerspruch in sich bildet. Das Virtuelle folgt einer Tragik der Unrealisierbarkeit, da es eben nur eine Möglichkeit darstellt und eben etwas noch nicht in der Welt seiendes beschreibt. Virtuell bedeutet im Französischen daher so viel wie fähig zu wirken / möglich. Die Virtualität befindet sich demnach in der Sphäre der Metaphysik und bildet eine Dialektik zu der in diesem Zusammenhang mit der Realität gemeinten physischen Welt. Virtuelle Realität bedeutet also eine mögliche Welt, wird aber im Kontext einer existierenden alternativen Welt verwendet. Eine virtuelle Realität existiert nicht und kann auch nicht existieren, sondern beflügelt meiner Meinung nach nur ein menschliches Streben nach der Abschaffung des Körpers. In einem medialen Kontext beschreiben wir mit Virtual Reality Bildschirme und Prozessoren aus Metall, Glas und Kunststoff – weniger virtuell könnte es kaum sein. Daher ist der Begriff der Simulation zutreffend. Die Prozessoren und Bildschirme simulieren eine Realität, so wie die Kulisse, das Licht, der Nebel und die Musik des Raves eine Realität simulieren. Der Rave ist vollständig konstruiert, da er auf allen sinnlichen Ebenen einen gestalteten Raum schafft, so wie es zuvor Tempel und schließlich Disneyland geschafft haben. In dieser Logik der Simulation können wir sogar noch einen Schritt weiter gehen und den Rave zu einem Cyberspace (zu deutsch: kybernetischer Raum) formulieren. Nicht nur ist der Raum auf allen sinnlichen Ebenen gestaltet, sondern bringt auch Verhaltensweisen hervor, wie es sonst der virtuelle Raum im Digitalen vermag: Zum einen ist der Rave wie besprochen ein kybernetisches System und demnach ein Cyberspace. Darüber hinaus ist die Auslegung der eigenen Identität frei: Ich muss nicht ich selbst sein, sondern kann mich als Avatar, der erdachten Replikation meiner selbst entsprungen aus meiner Fantasie, bewegen. Nicht mehr bin ich an meinem Selbst aus einer gedachten Realität gebunden, sondern da ich mich in eine Simulation begebe, eröffnet sich die Möglichkeit der Simulation des Selbst. Die Eingangs beschriebene Freiheit eines Raves äußert sich so in einer zum einen freien Selbstdarstellung darüber hinaus aber auch in einer experimentellen Selbstdarstellung.

Jean Baudrillard, französischer Philosoph und Medientheoretiker des Poststrukturalismus, schreibt in seinem 1978 veröffentlichten Werk „Agonie des Realen“: „Das Imaginäre von Disneyland ist weder wahr noch falsch, es ist eine Dissuasionsmaschine, eine Inszenierung zur Wiederbelebung der Fiktion des Realen. Daher die Debilität dieses Imaginären, sein infantiles Degenerieren. Unsere Welt möchte kindlich sein, um den Anschein zu erwecken, die Erwachsenen stünden draußen in der realen Welt. Man will verbergen, dass die wirkliche Infantilität überall ist und dass die Erwachsenen selbst hier Kind spielen, um ihre reale Infantilität als Illusion erscheinen zu lassen.“ (Baudrillard 1978, 25) Ich hatte erwähnt, dass eine Achse zwischen Tempeln, Disneyland, Raves und dem Cyberspace existiert, da sie einen auf allen sinnlichen Ebenen gestalteten Raum schaffen. Demnach betrachte ich auch den Rave, so wie Baudrillard es beschreibt als eine Dissuasionsmaschine, die eine Fiktion des Realen wiederbelebt. Ebenso beobachte ich die allgegenwärtige Infantilität, die auf einem Rave offen gelebt wird, jedoch vermute ich dahinter eine gegensätzliche Absicht: Disneyland versucht das Realitätsprinzip zu retten: „Es geht nicht mehr um die falsche Repräsentation der Realität (Ideologie), sondern darum, zu kaschieren, dass das Reale nicht mehr Real ist, um auf diese Weise das Realitätsprinzip zu retten.“ (Baudrillard 1978, 25), oder noch einmal ganz konkret formuliert: „Disneyland wird als Imaginäres hingestellt, um den Anschein zu erwecken, alles Übrige sei real.“ (Baudrillard 1978, 25). Nach Baudrillard dienen diese Simulationen also dazu, die restliche Welt, ein kapitalistisches System, Staaten und Gesetze als Realität zu stabilisieren. Disneyland wird benötigt, um den Anschein zu festigen, alles andere wäre “Die” Realität – ein Gesetz. Der Rave dagegen hat zwar in diesem Zusammenhang dieselbe Position wie Disneyland bei Baudrillard, bildet dazu aber einen entschiedenen Gegenpol und offenbart die Realität als Illusion. Zwar bildet er einen ebenso gestalteten Raum, der als Simulation aufgefasst werden kann, jedoch offenbart sich beim Betreten die Konstruktion des Raumes und damit auch die Konstruktion aller übrigen Räume. Der Rave konstruiert keine weitere Ebene der Simulation, sondern durchbricht mittels der Simulation eine bereits bestehende. Wenn nach Baudrillard die Welt hyperreal ist, also eine Aufeinanderschichtung von simulierten Realitäten, so muss alles, dass ein neues Realitätsprinzip zu schaffen vermag eine Simulation sein. An dieser Stelle fühle ich mich an „Der Futurologische Kongress“ von Stanislaw Lem erinnert, oder an „Existenz“ von David Cronenberg, in denen eine Realitätsebene auf eine folgende konstruiert wird und die eigentlichen Bedeutungen wie Baudrillard es formulieren würde immer referenzloser werden bis schließlich nur noch ein Kontinuum an Realitäten existiert – die Hyperrealität. Der Konsum von psychoaktiven Substanzen, gliedert sich nun ein in diese rekursive Logik des Realen. Im futurologischen Kongress generieren Psychedelika unaufhaltsam weitere Ebenen der Simulation, zugleich bringen sie aber auch jeglichen Konstruktivismus zum Kollabieren. Michele Foucault würde den Rave so als Heterotopie begreifen und schreibt dazu: „Hier stoßen wir zweifellos auf das eigentliche Wesen der Heterotopien. Sie stellen alle anderen Räume in Frage, und zwar auf zweierlei Weise: entweder […] indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.“ (Foucault 1966, 19). Der Rave schafft in diesem Zusammenhang beides, da er mittels der Simulation eine bestehende Illusion der Realität durchbricht und zugleich eine real existierende temporäre autonome Zone erschafft. Der Rave festigt nicht wie Disneyland ein Realitätsprinzip, sondern bringt es durch seine reine Existenz als Temporäre Autonome Zone zum Kollabieren. Der Rave ist eine Anomalie innerhalb einer vollständig regulierten Welt und offenbart somit die Simulation der Gesetze.

RAYARRAY

Die letzte der Betrachtungsweisen soll anhand meiner Arbeit RAYARRAY erfolgen, die im Zusammenhang mit den zuvor erfolgten Überlegungen in Zusammenarbeit mit Lucca Vitters entstanden ist. Daher zunächst eine kurze Umschreibung des Projektes, anschließend folgt eine Analyse der Arbeit: RAYARRAY ist eine generative Lichtinstallation, bestehend aus 50 Nodes, 85 Jumpern, 10 Lasern und einem Processing-Programm. Die 50 Nodes beinhalten jeweils eine 3D-gedruckte Halterung, einen ESP8266 Microcontroller, der mittels Arduino IDE programmiert wird, ein benutzerspezifisches PCB, vier Klinken Anschlüssen und einen Stepper Motor, auf den ein Spiegel oder ein Laser aufgesteckt werden kann. Die Jumper sind aus einem 35 cm langen Alurohr gefertigt und besitzen an den jeweiligen Enden einen Klinkenstecker. Daraus folgt nun ein System, nach dem die Installation je nach Raum und Einsatz modular zusammengesteckt werden kann. RAYARRAY bildet so ein bis zu drei auf fünf Meter großes Gitter, das an den Knotenpunkten, den Nodes, aus rotierenden Lasern und Spiegeln besteht. Durch die Stepper Motoren lässt sich die exakte Position der Spiegel und Laser errechnen und somit eine Simulation anfertigen, die wiederum die Laser und Spiegel nach unterschiedlichen Modi steuert. Die Laserstrahlen, die in das Gitter eintreten, werden so von Node zu Node reflektiert und generieren aufgrund der Rotation der Spiegel ein sich stetig wandelndes Muster. RAYARRAY ist eine Licht-Installation über den kollektiven Prozess eines Raves. Eine Vielzahl an unabhängig handelnden Agenten, den Spiegel-Nodes, generieren durch das Eintreten der Laserstrahlen ein System, das eine kybernetische Raserei, eine temporäre autonome Zone, eine Simulation darstellt.

Die Bezeichnung RAYARRAY setzt sich aus den zwei Begriffen RAY und ARRAY zusammen. Ray ist dabei ein Strahl, in diesem Fall ein Laserstrahl, während Array aus der Informatik stammt und eine Anordnung bzw. ein Feld bezeichnet. RAYARRAY bedeutet also so viel wie „Strahlenfeld“ und ist damit eine Analogie auf das Medium Rave. Die Installation war von Beginn an als Bühnenrückwand konzipiert, sodass sie hinter einem DJ hängend den Besuchern als Gegenüber auftritt. RAYARRAY reflektiert so in einem doppelten Sinne den Rave. Die Spiegel-Nodes betrachtet als die Entitäten des Raves, unabhängig handelnde Agenten, die verbunden durch den Laserstrahl miteinander interagieren und ein System bilden. So wie ich den Rave als Medium aufgefasst habe und die Relationen der Entitäten als entscheidenden Faktor betrachte sind es auch bei RAYARRAY die Relationen, also die Laserstrahlen, die ein System bilden. Die Installation wird damit zu einer visuellen Simulation des Raves. Wie dargelegt ist der Rave ein Raum, der mittels der Simulation eine bestehende Illusion der Realität durbricht. RAYARRAY ist ebenso ein Raum, der mittels der Simulation eine bestehende Illusion der Realität durbricht. Wie die Veranstaltung selbst sind die Zusammenhänge, also die Muster, die in Form von Laserstrahlen hervorgehen zwar “nur” eine Simulation einer Realität, jedoch in diesem Moment real und offenbaren dadurch eine neue Realität. RAYARRAY schafft einen Raum der parallel existiert zum bestehenden absoluten Raum. Es geht jedoch noch einen Schritt weiter: Die Installation ist zwar ein geschlossenes System, als solches jedoch zugleich eine Entität des eigentlichen Raves, da sie schlussendlich eine Lichtinstallation innerhalb eines Raves bildet und reflektiert in diesem kybernetischen Sinne das Geschehen. Wie ich dargelegt habe, ist der Rave ein Rückkopplungssystem, in dem alle Elemente miteinander kommunizieren und so einen geschlossenen Organismus bilden. RAYARRAY ist ebenfalls ein solches System sowie die Entität des Systems Rave. Eine temporäre autonome Zone innerhalb einer temporären autonomen Zone. Ein System innerhalb eines Systems. Eine Simulation innerhalb einer Simulation.

FAZIT

Ich habe mich nun auf diversen Ebenen mit dem Thema Rave auseinandergesetzt: Zunächst habe ich eine kurze Einführung gegeben in zwei entscheidende Themen: Welche Form der Veranstaltung ist für mich als Rave zu klassifizieren sowie Utopien, da sie in allen Betrachtungen omnipräsent ist. Anschließend hat eine Analyse anhand von 3 Modellen sowie der Lichtinstallation RAYARRAY stattgefunden, bei der ich zu einzelnen Thesen gelangt bin. Der Rave ist ein Rückkopplungssystem, in dem alle Elemente in Kommunikation miteinander stehen und so einen geschlossenen Organismus bilden, der von seiner Umgebung abzugrenzen ist. Der Rave ist eine Temporäre Autonome Zone und folgt damit einer anarchistischen Praxis, in der alternative oder neue Formen des Zusammenlebens erprobt werden, wenn nicht sogar bereits konkret gelebt werden können. Der Rave ist eine Simulation innerhalb des Leviathans, die aber eine wahrgenommene Realität als Illusion offenbart, da sie ganz real einen Raum schafft, der nach anderen Mustern funktioniert. RAYARRAY ist eine Analogie auf den Rave, da die Installation den drei Modellen entspricht und dabei selbst in einer rekursiven Logik die jeweilige Funktion der Modelle auf dem Rave einnimmt.

Inhaltlich bin ich jedoch noch nicht an einem Ende angelangt. Was fehlt, ist der Rave selbst. Dieser hat im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit am 27.05.2023 stattgefunden und war meine Umsetzung der hier erfolgten Überlegungen und Erkenntnisse zu einem realen Raum. Auf dem Rave hat zudem eine Lesung des bis hier erfolgten Theorieteils stattgefunden, um mit eben jenen Überlegungen in die Nacht gehen zu können. Zusammen mit dem autonomen Radio Kollektiv “Radio Angrezi” wurden zudem über die Nacht hinweg Interviews mit den Gästen durchgeführt, um der anschließenden Diskussion einen Rahmen zu geben. Die Installation RAYARRAY war natürlich ebenfalls als zentrale Lichtinstallation aufgebaut neben diversen weiteren Installationen auf und um den Floor herum. Die finale These ist nur der Rave selbst. Ein Fazit kann möglicherweise nur dort gefunden werden. An dieser Stelle werde ich jedoch zu keinem gelangen.

Eine genaue Dokumentation des Raves gibt es explizit nicht. Die Gründe habe ich bereits genannt: Eine Dokumentation würde den Rave als solchen zum Kollabieren bringen. Der geschlossene Organismus würde sich öffnen, die Geschichte hätte eine Definition der temporären autonomen Zone und die Simulation wäre nicht weiter in der Lage, eine Realität infrage zu stellen.

Eine ausführliche Dokumentation der Lichtinstallation RAYARRAY kann auf dieser Website gefunden werden:

LITERATURVERZEICHNIS

Jean Baudrillard (1978): Agonie des Realen, 1. Aufl. Berlin: Merve Verlag

Hakim Bey (1991): The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism, 1. Aufl. Leipzig: Forgotten Books

Ernst Bloch (1923): Geist der Utopie, 1. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft

Michel Foucault (1966): Die Heterotopien, Der utopische Körper, Zwei Radiovorträge, 5. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft

Stanislaw Lem (1971): Der futurologische Kongreß, 1. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp Taschenbuch

Lyman Tower Sargent (2010): Utopianism, A Very short Introduction, 1. Aufl. New York: Oxford University Press

Norbert Wiener (1952): Mensch und Menschmaschine, 1. Aufl. Frankfurt: Alfred Metzner Verlag

QUELLENVERZEICHNIS

Nature (2019): Music synchronizes brainwaves across listeners with strong effects of repetition, familiarity and training, https://www.nature.com/articles/s41598-019-40254-w, abgerufen am 09.06.2023.

Deutschlandfunk (2018): Geist der Utopie, https://www.deutschlandfunk.de/ernst-bloch-geist-der-utopie-100.html, abgerufen am 09.06.2023.

Cell (2022): Undetectable very-low frequency sound increases dancing at a live concert, https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(22)01535-4?fbclid=IwAR1_HTm8lZ4KdOQhPMQOGJa_jW-tZuTus9w3hz-gZwV0ck3zJzxRpg7BbbA, abgerufen am: 09.06.2023 .

Cronenberg, David: „Existenz“, Spielfilm, USA 1999

„Das Fusion Festival“, Homepage, https://www.fusion-festival.de/de/2023/festival, abgerufen am 09.06.2023