SIMON LANG

FAKED AND ORGANIZED DENIAL OF REALITY

Krypto-Utopien

Wie Kryptographie zu einer Utopie wurde und warum in ihr eine letzte Hoffnung liegt.

„Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben, Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.“ (Ernst Bloch, 1918)

Technologische Entwicklungen sind ein Brennglas gesellschaftlicher Zustände: Hoffnung und Möglichkeiten stehen im Widerspruch zu Befürchtung und Unfähigkeiten, katalysiert aus einem bereits existierenden Ist. Technologie ist eine neue Fähigkeit, die in den Körpern der Welt die Vorstellungskraft expandieren lässt. Das Internet, die Computerisierung und Algorithmisierung der Gesellschaft sowie die damit einhergehende gesamtgesellschaftliche Veränderung entwickeln somit, in langer Tradition, Utopien und Dystopien. Cyber-Aktivisten und Cypher-Punks zeigen auf, zu was das Netz im Stande ist: Auf der einen Seite wird die globale Überwachung durch Gesichtserkennung, Überwachungskameras, Aufzeichnung und Kontrolle vorangetrieben, auf der anderen werden anonyme Netzwerke aufgebaut und Daten korrumpiert. Während Cloudunternehmen ihre Reichweite ausbauen werden private Open-Source-Lösungen entwickelt. Während Zahlungsdienstleister tracken wann, wer, wo, was, für wie viel gekauft hat boomen Kryptowährungen, und während Datenbankensysteme zusammengeführt und zentralisiert werden entwickelt sich die dezentrale Blockchain zum absoluten Hype.

"So this is utopia, Is it? Well – I beg your pardon; I thought it was Hell" (Max Beerbohm)

So entfesseln wir dieses Geflecht der Hoffnung und Befürchtung, der Möglichkeiten und Unfähigkeiten. Welche Technologie definiert? Welche Ideale werden in ihr verfolgt? Welche utopischen Elemente und Narrative lassen sich in ihr wiederfinden?

Wie wurde Kryptografie zu einer Utopie und warum in ihr eine letzte Hoffnung liegt.

Einführung

Um sich Krypto-Utopien anzunähern, ist es zunächst von Nöten die Begrifflichkeiten, welche in diesem Kontext verwertet werden, zu verstehen. Auch wenn Verstehen zum Scheitern verurteilt ist, so muss zumindest der Versuch erfolgen: Das Wort Utopie war hierbei ein alter Neologismus, welcher sich aus dem griechischen „topos“ mit dem Präfix „u“ für „ou“ zusammensetzt und übersetz so viel wie nicht-Ort bedeutet. Durch die Konnotation des Begriffs „Eutopia“ für einen guten Ort ergibt sich somit der gesamte Sinn als ein nicht existierender guter Ort. Durch die literarische und politische Verwendung beschreibt eine Utopie jedoch nicht nur einfach einen nicht existierenden guten Ort, sondern wurde mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Verbindung gebracht und handelt von einem besseren Ort. Insbesondere die Vorstellung des Besseren verdeutlicht die Flucht und den Drang aus der gegebenen Realität. Die Utopie als gesellschaftlicher Traum eines besseren Lebens, die Utopie als Material aus der Politik geformt wird. Lyman Tower Sargent, Professor für Politikwissenschaften und aktuell einer der führenden Denker utopischer Studien, beschreibt daher Utopien und die Komplexität des Begriffs als „social dreaming“. Eine praktizierende Form des social dreamings stellen demnach „intentional communitys“ dar, welche aus einer Gruppe von Individuen in einer Gesellschaft bestehen, die in einem Miteinander die geteilten Werte und Vorstellungen umsetzten.

Utopien birgt jedoch auch eine Gefahr inne: Bewusst ist die Rede von einem nicht existierenden Ort, denn der Grat ist schmal. Das Negativ ist die Dystopie: Die Umkehrung der Utopie. Der Wiederspruch in Befürchtungen und Unfähigkeiten. Die gesellschaftliche Ahnung eines schlechteren Lebens. Von Bedeutung ist hierbei vor allem die Verbindung der Pole: Was und Wen repräsentiert eine Utopie? Welche Werte und Ideale werden vertreten? Welches Material wird im Filter der Utopie gesiebt? Intuitiv erfolgt die Schlussfolgerung, dass die Utopie des Einen die Dystopie des Anderen bedeutet. Wer Utopien reflektiert muss die Dystopie mitdenken. Wer Dystopien reflektiert muss die Utopie mitdenken.

Je nach verfolgtem Paradigma oder verfolgter Prämisse lassen sich utopische Literatur und Narrative in diverse Genre und Strömungen aufteilen. Beliebt ist gegenwärtig etwa die Vorstellung von technologischem Fortschritt, von Problemen der Gegenwart, die durch neue Technologien in der Zukunft gelöst werden, häufig von einem Sein ohne Verantwortung für das Ist. Techno-Utopien wie die Lösung der Klimakrise allein durch neue Technologien der Zukunft vertrauen zwar ehrenswerterweise in die Möglichkeiten der Menschen und sind in diesem Sinne gewissermaßen utopisch, jedoch auch gänzlich unkritisch da dem eigenen persönlichen Handeln in diesem Zusammenhang keine Bedeutung beigemessen wird. Wer sich Krypto-Utopien annähert stellt fest, die Technologie von entscheidender Relevanz existiert längst: Kryptographie.

Der Begriff beschreibt die Wissenschaft der Verschlüsselung. Aus dem griechischen „kryptos“ und „graphein“ als das verborgene Schreiben verwandelt die Kryptographie das Wesen der Information. Nicht ist die Rede von Verheimlichung. Die Information in ihrer Erscheinung ist absolut publik, nur lediglich codiert ergo pseudonymisiert. Ein metaphysisches Gewand legt sich wie ein Schleier auf ihr nieder, doch lässt ihr ontologisches Sein unantastbar.

Die Kryptographie als Technologie ist im Gegensatz zur Utopie von einer gewissen Unschuld, da sie lediglich ein Werkzeug darstellt, welches für jede menschliche Verwendung zur Verfügung steht. Sie hat keine Kehrseite die einen Abgrund eröffnet ebenso wenig wie eine Immunität gegen Missbrauch. Eines der frühen Beispiele für komplexe mathematische Kryptographie ist die von der deutschen Wehrmacht eingesetzte Enigma.

Ergänzen sich diese beiden Dinge wechselseitig so spreche ich von Krypto-Utopien. Gar nichts neues. Nichts was nicht schon Ist. Gewissermaßen allgegenwärtig. Krypto-Utopien haben eine lange Historie an Manifestierungen und werden bis heute rege weiterentwickelt: Enthüllungsplattformen wie Wikileaks, Open-Source-Software-Projekte, freie Enzyklopädien wie Wikipedia, HTTPS Verschlüsselungen im Internet und das Dark-Web im Allgemeinen, TOR Webbrowser und anonyme Netzwerke, Freifunk-Vereine, Kryptowährungen und die damit etablierte Technologie der Blockchain sind einige bekannte Vertreter einer geteilten Ideologie, die der Utopie und Dystopie hofieren. Krypto-Utopien betreiben Netzpolitik, entwickeln Code, sind kritisch, sind anarchistisch, sind kapitalistisch, werden gesponnen, werden etabliert und vernichtet. Der Wilde Westen, die Pionierzeit der Digitalisierung lädt ein. Krypto-Utopien hinterfragen Individuen, Werte, Staaten und was es bedeutet in einem technologischen Panzer Mensch zu sein.

„Als seien der Mensch und die Maschine in diesem gemeinsamen Unglück ein einziger zerbrechlicher Organismus geworden.“ (Ian Banks, 1987)

Um zu verstehen, wie ein obskurer Zweig der Mathematik zu einer Waagschale der netzpolitischen Akteure werden konnte, müssen wir uns nun den technologischen Grundlagen, die hier mit verantwortlich sind, widmen.

Technologische Grundlagen

Internet: Den Computer, die Rechenmaschine nehme ich an dieser Stelle als bereits gegeben an. Zwar weckt auch dieser mit seiner exponentiell wachsenden Leistung diverse Hoffnungen und Befürchtungen, doch ist es erst der Austausch zwischen Computern, der Dialog der Elektronenhirne, die Vernetzung, welche für Krypto-Utopien entscheidend ist. Digitale Kommunikation und digitaler Informationsaustausch in einer Netzwerkinfrastruktur, dem Internet, bilden das Fundament unserer Kategorie. Krypto-Utopien sind System-Utopien, welche von Wissen und Wissensaustausch handeln. Die ersten Krypto-Utopien haben sich daraus folgernd entsprechend während der ersten globalen Expansion dieses Netzwerks etabliert. Deren Narrative sind weiterhin lebhaft und wurden in darauffolgenden Entwicklungen weiterverarbeitet.

Asymmetrische Verschlüsselung: Der Obskure Zweig der Mathematik, der sich in diesen Zusammenhang einfügt, lautet asymmetrische Verschlüsselung. Die einzelnen Verfahren unterscheiden sich im Detail, teilen jedoch ein gemeinsames Konzept: Wer digital kommunizieren möchte, nutzt das Internet – eine im Konzept öffentliche Infrastruktur. Der Informationsaustausch an sich ist hierbei nicht zu vertuschen, lediglich das Ontologische, die Information soll verschlüsselt sein: Hierfür werden bei den Teilnehmenden Schlüsselpaare generiert, einer öffentlich, mit der Aufforderung, Informationen, welche an den Eigentümer zu übermitteln sind, damit zu verschlüsseln, einer privat, welcher das Schloss zu öffnen vermag. Lediglich der Inhaber letzteren ist in der Lage aus den zer-rechneten Daten einen Sinn zu entziehen. Aufgrund der mathematischen Eleganz des Verfahrens bleibt einem Dritten nicht mehr, als durch zufällige Versuche einen Schlüssel zu generieren. Eine rück-zer-rechnung ohne privaten Schlüssel verbraucht im schlimmsten Fall mehr Energie als im uns bekannten Universum zu Verfügung steht. Tragisch. Oder genial. Krypto-Utopien sind Verschlüsselungs-Utopien, welche von Privatsphäre und der Bestimmung von Informationen handeln.

Blockchain: Die Harmonie wird von einer dritten Technologie vervollständig. Die Blockchain ermöglicht Informationen nicht nur verschlüsselt zu versenden, sondern auch verschlüsselt zu speichern und zu verwalten. Wie in einem Kassenbuch wird jede abstrakte Transaktion eines Netzwerkes notiert jedoch verschlüsselt und in Blöcke zusammengefasst. Eben jene Blöcke voller Transaktionen werden anschließend verkettet, wobei die Validierung eines Blockes Teil des nächsten wird. Ein Angriffsversuch kommt einer Domino-Kettenreaktion gleich. Im positiven Sinne: Nicht die Blockchain kollabiert, lediglich ihre Korrektheit. Dezentral und gemeinschaftlich gepflegt ergibt sich eine verteilte Datenbank, deren Inhalt Ewigkeit bedeutet. Jeder digitale Prozess, der über reine Kommunikation hinausgeht, kann somit ohne Verlust an Vertrauen dezentral erfolgen. Krypto-Utopien sind dezentrale Utopien, welche von einer Demokratisierung des Internet und dem Abbau von Machtstrukturen handeln.

Cypherpunk

Die ersten Krypto-Utopischen Narrative haben sich parallel zur Expansion des Internets entwickelt. Während immer mehr Haushalte einen privaten Zugang über Kupferlitze erhielten und Aktivisten in Guerilla-Aktionen stolz Funkantennen für ein revolutionäres Wireless Local Area Network auf Hausdächern installierten, um sogenannte Hot-Spots aufzumachen, wurde von den Fachmedien ein anarchistisch organisiertes Netz postuliert, durch welche Personen sich politisch bilden könnten, Demokratisierungsprozesse beschleunigt würden, Wissen allgegenwärtig scheint, und niemand darüber kontrollieren könne. Die Realität wurde zu einer anderen.

Die ideologische Grundlage, welche diesen Entwicklungen ihren Lauf gegeben hat, wurde von Tim May im Jahr 1988 in einem Krypto-Anarchistischen Manifest zusammengefasst:

„A specter is haunting the modern world, the specter of crypto anarchy. “ (Timothy C. May, 1988)

Es ist faszinierend, wie Tim May noch vor der Kommerzialisierung des WWW zum einen die Möglichkeit der anonymen digitalen Kommunikation und Interaktion vorhergesehen hat, zu anderen die damit einhergehenden staatlichen Regulierungen und Kontrollen miteinschließt, um daraus einen sich anbahnenden Interessenkonflikt zu formulieren.

“The State will of course try to slow or halt the spread of this technology, citing national security concerns, use of the technology by drug dealers and tax evaders, and fears of societal disintegration. “ (Timothy C. May, 1988)

Konkret entsteht daraus folgernd die Forderung mithilfe kryptographischer Kommunikation das Machtverhältnis zwischen staatlicher Ermächtigung und Überwachung gegenüber den Bürgern umzukehren. Handlungen, welche von der Gesellschaft als kriminell eingestuft werden, müsste man in Kauf nehmen und sind im Grunde nicht verhinderbar. Die Krypto-Utopie, die hiermit zum ersten Mal formuliert wird, basiert auf einem verschlüsselten Netzwerk, beinhaltet einen demokratischen freien Markt, fordert Privatsphäre und die Befreiung geistigen Eigentums. Das Manifest stellt somit eine, wie Lyman Tower Sargent es beschreiben würde, „negative Utopie“ dar, welche insbesondere durch die Abwesenheit und durch die damit vorhergehende Verdrängung des Übels definiert wird.

Etwa fünf Jahre später folgt auf das Krypto-Anarchistische Manifest das Cypherpunk Manifest formuliert von Eric Hughes welches die etablierten Konzepte fortführt.

“Privacy is necessary for an open society in the electronic age. Privacy is not secrecy.” (Eric Hughes, 1993)

Mit dem Cypherpunk Manifest wurde die Ideologie hinter Krypto-Utopien ausgestaltet und zu einer ganzen Kultur erweitert. Der Fokus liegt nun mehr auf persönlicher Privatsphäre, welche in einem digitalen und vernetzten Raum, vorangetrieben durch Staat und Wirtschaft, abhandenkommt, aber zu schützen gilt. Privatsphäre ist nach Eric Hughes eine Grundvoraussetzung für eine freie Gesellschaft. Nur wenn sie als solche gegeben ist kann der Mensch sich selbstbestimmt der Welt offenbaren.

“Privacy is the power to selectively reveal oneself to the world.” (Eric Hughes, 1993)

Daraus folgernd fordert das Cypherpunk Manifest 1993 ein anonymes Transaktionssystem welches kryptographische Kommunikation und Transaktion ermöglicht. Ein System, dass Informationen nicht verheimlicht – privacy is not secrecy – sondern pseudonymisiert, also lediglich verhüllt.

Das Wissen über ein Individuum wird verschleiert, doch das Wissen über Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft muss öffentlich sein. Der Interessenskonflikt zwischen Bürgern und Staat wird fokussiert und findet nur im Aktivismus seine Erlösung.

“We the Cypherpunks are dedicated to building anonymous systems. We are defending our privacy with cryptography, with anonymous mail forwarding systems, with digital signatures, and with electronic money. Cypherpunks write code.“ (Eric Hughes, 1993)

Da es ausschließlich dem Interesse der Privatpersonen entspricht Privatsphäre zu wahren, expandierte die Bewegung für freie Software, die Open-Source-Community, welche sich bereits in den 70er Jahren formierte, auf den Zweig der Kryptographie.

Die Ideologie der Krypto-Utopie wurde in die Welt getragen. Wir befinden uns nun in einem Spannungsfeld zwischen Libertarismus, Demokratie und deren konsequente Ausführung der Anarchie in einem digitalen vernetzen Raum welcher von einem Interessenkonflikt zwischen Individuum, Staat und Wirtschaft dominiert wird.

Das Utopische Element

Utopische Narrative verdichten sich seit jeher in noch neu zu erschließenden Gebieten. So wie nach Lyman Tower Sargent im Kolonialismus und der Pionierzeit Nordamerikas Utopien und die damit verbundenen „intentional communitys“ florierten, so erleben wir nun in der Besiedelung des Cyberspaces eine sich wiederholende Historie. Durch die Neutralität des Neuen wird die Auseinandersetzung mit dem Alten zum untrennbaren Wesen des Pionier-Seins. Eben dieser Prozess bringt Hoffnungen und Befürchtungen zu Tage und formt Utopien in positiver und negativer Formulierung. Es sei erwähnt, dass der Cyberspace in dieser Reihe ganz natürlicherweise prädestiniert ist für die Entwicklung von Utopien, da er gewissermaßen selbst eine Utopie darstellt. Die simulierte Virtualität, die einer Tragik der Unrealisierbarkeit folgt. Ein Ozean der Träume und Albträume, welcher nur gelegentlich kondensiertes Material an Land zu spülen vermag. Die Utopie des Einen bedeutet jedoch die Dystopie des Anderen. Dass sich unweit der Krypto-Utopischen Narrative parallel ein ganzes Genre der technologischen Dystopie, der Cyberpunk (nicht zu verwechseln mit Cypherpunk), gebildet hat, ist daher nicht verwunderlich.

Wohin treibt nun also unsere Krypto-Utopie, deren Ideale in das Netzwerk gespült wurden?

Die Utopie des Einen bedeutet die Dystopie des Anderen. Die Freiheit Amerikas wurde zum kapitalistischen Weltdiktat und die digitale Vernetzung hat bekanntermaßen die größten Monopole der Geschichte hervorgebracht. Die Ideale der Krypto-Anarchisten und Cypherpunks waren dabei nicht ganz unbeteiligt. Es war eigentlich eben jener anarchistische Ansatz, die Vorstellungen eines unregulierten digitalen Neulands, den sich ebenfalls die Wirtschaft zu nutzen machen konnte. Das Internetfirmen wie Google, Facebook, Amazon etc. eine solche Marktmacht erlangen konnten, hängt auch mit dem Drängen nach kryptographischer Kommunikation zusammen, welche natürlicherweise nicht nur für Privatpersonen zugänglich war, sondern gerade von Unternehmen zu ihrem eigenen Nutzen großflächig implementiert werden konnte. Der postulierte Konflikt wurde somit Realität, doch die Mittel der Verteidigung waren die Mittel des Angriffs. Aber bedenke, der hypothetische Schnitt zwischen Individuum, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat ist sanft - das Gebilde beschreibt eher ein träge morphendes Liquide dessen Interessen miteinander interferieren und sich in Kohärenzen herausbilden. Lässt sich daraus bereits ein Fazit ziehen? Nicht im Geringsten, denn eines fehlt noch.

Die letzte der drei Schlüsseltechnologien, die Blockchain ist im Gegensatz zur Kryptographie eine noch eher jüngere Entwicklung. Die erste erfolgreiche Implementierung hat mit dem Veröffentlichen des Bitcoin Core, also die Softwareinstanz, welche das Bitcoin-Netzwerk bildet, im Jahr 2009 stattgefunden. Vorgeschlagen wurde das Konzept zwei Jahre zuvor von der kryptischsten Person denkbar: Satoshi Nakamoto – Von allen erwähnt, von niemandem gekannt. Die aktuelle Expansion von Kryptowährungen und der Blockchain steht somit in der Tradition der Cypherpunks, welche bekanntermaßen in ihrem Manifest 1993 ein kryptographisches Transaktionssystem und ganz konkret „electronic money“ forderten. Dass die Mechanismen, nach welchen der Bitcoin arbeitet, genau den geforderten Prinzipien entsprechen ist Kalkül.

Zurück zu unserer Krypto-Anarchistischen Hoffnung, die zu Befürchtung und zu Wahrheit wurde: Man könnte also den Eindruck gewinnen die Blockchain stelle eine Technologie dar, auf die nur 20 Jahre gewartet werden musste, und nun als Werkzeug der Cypherpunks die Krypto-Utopie in die Tat umsetzt. Und tatsächlich lassen sich die Ideale der beiden Manifeste exakt auf Kryptowährungen und erfolgreiche Blockchain-Programme, deren Marktkapitalisierung mit den Netz-Monopole mithalten kann, projizieren. Doch gewitzter sind wir geworden und müssen weiterdenken.

Hoffnung

In den 80er und 90er Jahren haben sich nun Krypto-Utopische Narrative entwickelt, welche die Grundlagen für die aktuell am meisten polarisierende informatische Entwicklung bilden. Zeitgleich hat das abwesende Negativ dieser Utopie, vergleichbar dem dystopischen Genre des Cyberpunks, die Netzstrukturen dominiert. Aus der Utopie wurde eine Dystopie. Aus einem neuen Ist entwickeln sich somit aktuell die Krypto-Utopien weiter und finden in eben jener informatischen Entwicklung der Blockchain ihren Höhepunkt. Diese gilt es nun kritisch zu hinterfragen.

Haben wir etwas verstanden? Oder müssen wir beginnen zu hoffen? Wir haben eine Schwelle in das Jetzt überquert und sind nicht mehr in der Lage zu fassen was ist. Doch in der konkreten Formulierung liegt meist eine Erkenntnis verborgen. Sich der Expansion der Blockchain annähern bedeutet Kryptowährungen analysieren. Der Bitcoin war hierbei nur Vorreiter und stellt nun den dominierenden Teil einer ganzen, sich gerade entwickelnden, Krypto-Wirtschaft dar, welche ihre eigenen Gesetzte formt. Mit etwas Abstand fällt auf, dass sich der Konflikt zwischen Individuum, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat erneuert in einem Kampf um Wertschöpfung selbst. Verblüffend ist hierbei jedoch die Gewichtung, die den Akteuren beigemessen werden muss: Während an der Etablierung und Entwicklung des Internets zunächst ausschließlich Staaten beteiligt waren, schließlich die Wirtschaft und zuletzt Individuen so ist dieses Verhältnis im Falle von Kryptowährungen und der damit verbundenen Blockchain umgekehrt. Sie beginnt bei einer gänzlich privaten Entwicklung und Verbreitung mit einem erst daran anschließenden Interesse der Wirtschaft und zuletzt dem der Staaten. Diese Erkenntnis führt zur Schlussfolgerung eines technologischen Fortschritts der Bürger gegenüber dem Staat der sich als wirksam erweisen könnte. Und es ist durchaus verblüffend, mit welch errechneter Präzision, an die zunächst niemand glaubte, sich der Bitcoin als Wertanlage und eventuell neuer Goldstandart durchsetzt. Eine dezentrale Währung, durch Private geschöpft, unabhängig von Banken und Staaten, dabei absolut demokratisch verwaltet und jeden kryptographischen Anforderungen gerecht. Man könnte den Eindruck gewinnen, Krypto-Utopischen Narrative hätten sich in der Realität selbst überhöht.

Ähnlich ergeht es der sich an den Erfolg von Kryptowährungen anschließenden Entwicklung der Blockchains. Nicht nur Transaktionen digitalen Geldes können kryptographisch verarbeitet werden, sondern auch Transaktionen jeglicher anderen Art. Inzwischen sind ganze Applikationen dezentralisierbar, ein technisches Novum, entsprechend prognostizieren Informatiker eine Umwälzung des WWW von einem Internet der Information hin zu einem Internet der Werte, im Englischen etwas abstrakter als value bezeichnet. Demokratisierung und Dezentralisierung haben im Cyberspace einen Eid geschworen. Die Blockchain soll Erlösung bringen.

Betrachte ich die bisherigen Entwicklungen so zeichnet sich doch auch hier ein ambivalentes Bild: Zunächst sei gesagt, dass die aktuelle Durchströmung der globalen Wirtschaft durch Kryptowährungen an Genie kaum zu überbieten ist. Die Details, die für diesen Erfolg verantwortlich sind entsprechen einem anderen Thema, doch der wirksame Mechanismus dahinter entspricht einem bekannten Konzept: Die Mittel der Verteidigung waren die Mittel des Angriffs.

Gänzlich in Frage stellen möchte ich aber die wirtschaftliche Verwertung dieser Technologie, welche sich daran anschließt: Gemeinnützige Organisationen welche forciert Lösungen entwickeln entsprechen noch einer geteilten Ideologie, doch private Firmen, die aus Streben nach Profit ohne jegliche Innovation auf den Hype aufspringen und obskure digitale Währungen herausgeben und diese noch als Kryptowährungen vermarkten sprengen jedoch das Konzept von tolerieren und im Grunde nicht verhinderbar. Die sich bildenden Pläne der Zentralbanken, eigene Kryptowährungen herauszugeben, werden sich voraussichtlich dieser Entwicklung anschließen. Vor dem Hintergrund des monopolisierten Netztes und der sich bekanntlich wiederholenden Historie müssen die Autor:innen der Krypto-Utopien gewarnt sein: Informationen in der Blockchain bedeuten Ewigkeit.

Zuletzt bilden sich aber jedoch auch kaum zu fassende Kohärenzen wie beispielsweise die Errichtung ganzer Blockchain-Communitys. Nach diesem Konzept der intentional community könnten autonom durch Blockchains verwaltete Kommunen entstehen, deren gesamte Bürokratie wie Wahlen, Währung und Verwaltung über die dezentrale Datenbank erfolgt. Die Organisation obliegt jedoch privaten wirtschaftlichen Interessen. Der Sinn nach Demokratie und persönlicher Entfaltung kann zumindest bezweifelt werden. Was aktuell wie eine obszöne Verwicklung aus eines sich kondensierenden Cyberspace mit Kryptographie und Utopien anmutet wird jedoch in seiner Ideologie in jedem Fall überleben und die Wirkung weiterer Ursachen bleiben.

Schlussfolgerung

Die Krypto-Utopie bedeutet Demokratie: Die Hoffnung auf ein durch Kryptographie gleichberechtigtes Netz, welches gesellschaftliche Institutionen zum Wohle aller ersetzten kann, Privatsphäre bietet, durch welche wir uns der Welt öffnen können, Wirtschaftsprozesse, Informationen und Macht dezentralisiert.

Die damit verbundene Ideologie wurde von Krypto-Anarchisten und Cypherpunks in die Welt getragen. Die Demokratisierung des Cyberspace hat damit direkten Einfluss auf den physischen Raum. Der daraus gegossene Interessenskonflikt wütet seit jeher. Birgt die Blockchain Erlösung? Möglich, „denn wir sind mächtig; nur die Bösen bestehen durch ihren Gott, aber die Gerechten – da besteht Gott durch sie.“ (Ernst Bloch, 1918) Die Krypto-Utopien die gegenwärtig gesponnen werden folgen gleichen Idealen, doch wer die Utopie reflektiert, muss die Dystopie miteinschließen. Solange der Interessenskonflikt zu keiner dialektischen Aufhebung geführt werden kann, so wird auch der Cypherpunk-Aktivismus keine Dispensation finden.

„Was jetzt war, wird bald wohl vergessen sein. Nur eine leere, grausige Erinnerung bleibt in der Luft stehen. Wer wurde verteidigt?“ (Ernst Bloch, 1918)

Literaturverzeichnis

1. Ernst Bloch: Geist der Utopie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1964.

2. Lyman Tower Sargent: Utopianism: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press 2010.

3. Eric Hughes „A Cypherpunk’s Manifesto” (1993-03-09) unter: https://activism.net/cypherpunk/manifesto.html (abgerufen: 2021-03-23)

4. Timothy C. May „The Crypto Anarchist Manifesto”(1988) unter: https://www.activism.net/cypherpunk/crypto-anarchy.html (abgerufen: 2021-03-23)

5. Satoshi Nakamoto „Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System” (2007) unter: https://bitcoin.org/bitcoin.pdf (abgerufen am: 2021-03-23

6. „Blockchain“ unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Blockchain (abgerufen am: 2021-03-23)

7. „Asymmetrisches Kryptosystem“ unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Asymmetrisches_Kryptosystem (abgerufen am: 2021-03-23)

8. Daniel AJ Sokolov „Nevada will lokale Regierungsmacht an Tech-Firmen abtreten“ (2021-02-08) unter: https://www.heise.de/news/Nevada-will-lokale-Regierungsmacht-an-Tech-Firmen-abtreten-samt-Gericht-5048204.html (abgerufen am: 2021-03-23) (Eric Hughes, 1993)